Geburt.
Unbegreiflich für Menschen. Ein blinder Fleck. Wir
Säuglinge. Täglich neu genährtes Wissen. Wenn einer wachsen will, muss er dem
Wissen folgen, das er bisher aus seiner Wahrnehmung verdrängt hat. Aber wie nimmt er
seinen blinden Fleck wahr?
Eltern. Alter Bios. Hier steckt eine Schuld der
Kinder, die nie überwunden wird.
Patriarchal. Im Zeichen des Vaters wurden wir zu
dem, was wir sind. Wir sind nicht mehr bereit, zu den Leuten zu werden, vor denen uns
unsere Eltern gewarnt haben. Wie viel weniger als verlorene Söhne und schwarze Schafe in
der Psychiatrie zu enden. Kontinuierlich werden die wohlfeilen Persönlichkeitshorizonte
abgebaut, mögen auch noch so viele Ersatzidentitäten für Kurzzeitexistenzen
bereitgehalten werden.
Aufzeichnungen. Mit Fotografie und Video
markieren wir unsere Biografie. Je einfacher die Aufzeichnungssysteme wurden, je
nachhaltiger wurden Konserven des passierten Lebens hergestellt. Erinnerungsbibliotheken
für jedermann entstehen. Fröhliche Zeiten für die Psycho-Ingenieure, wenn zukünftig
Klein Hänschens frühe Deprivationen kinematografisch rekonstruiert werden können, jede
Neu- und Altrose auf den Bildpunkt elterlichen Versagens gebracht werden kann. Kein
großer Schritt trennt uns mehr von der filmischen Totalerfassung jeder Lebensregung. So
werden wir im quälenden Detail wissen, warum wir wurden, was wir sind oder - in der
Mehrzahl der Fälle - nicht sind. Die sinnlos verheizte Lebenszeit, die vielen Momente des
alltäglichen Nichts werden zu beredten Zeitzeugen, Mahnung und Abrechnung.
Provokation. Ein Zweijähriger provoziert seine
Mutter: "Schei..., Schei..., Schei...". Er kennt schon verbotene Wörter und
spielt mit der Semantik. Er spricht nicht aus, um auszusprechen und sich doch jeder
Sanktion zu entziehen. Nicht immer vermeidet man mit dieser Technik
Ohrfeigen.
Sinnkrise. Die von Nietzsche beschworene
Sinnkrise findet nicht statt. So wie die Verhältnisse nach Brecht in die
Funktionale gerutscht sind, so rutscht die Sinnsuche ins Unbewusste ab, wabert ein wenig,
um dann vollends im neuen Identitätsdesign zu verschwinden.
Väter. Die Rolle ist inzwischen schwach besetzt.
Wie lässt sich heute noch Erfahrung vermitteln? Wir werden alte Schwätzer mit rostigen
Erinnerungen.
Mutter. Intrauterine Sicherheitszone - aber nur
vorläufig. Die Enttäuschung über die Mutter schreit nach Rache. Wenn alle Aggression
zuletzt Enttäuschung wäre. Diesen Konstruktionsfehler der besten aller möglichen Welten
mahnen wir an.
Intimitätskiller. Massenmedien schnorcheln sich
in die Intimität der Familien ein. Kein Zweifel: Repressionsagenturen, die Ehefrauen und
Kinder misshandeln, müssen geoutet werden. Aber was ist mit familiären Arrangements, die
keine gesellschaftlichen Agenturen zur Produktion botmäßiger Mitglieder sein wollen. Die
Familie konstituiert sich als Durchzugsfeld gesellschaftlicher Imperative und zugleich als
deren Abwendung. Familienstrukturen bleiben ambivalent, um die Identität des Individuums
zu sichern. Gegen die Gesellschaft und mit der Gesellschaft werden Familienbande
geknüpft. Diese fragile Struktur gilt es zu erhalten.
Kaputt. Ein kleiner Junge lernte als eine der
ersten Vokabeln das Wort "kaputt". Die Welt teilte sich in "kaputt"
und nicht kaputt. Dieses Unterscheidungsparadigma bleibt vielen geläufig. Mit dem Alter
wächst das Wissen um die "Kaputtheit", zugleich aber die Bereitschaft, sich
damit abzufinden. Die Verantwortung für das Weltganze nimmt mit zunehmendem Lebensalter
ab. Politiker suggerieren den Glauben an die bessere Zukunft lediglich. Zumeist sind sie
aber längst dem bedingungslosen Glauben an die Unveränderlichkeit der Welt anheim
gefallen.
Kinder. Kleine Teufel, die den Glauben an eine
harmonische Hölle vermitteln. Welches Bild übertrifft die Ansicht eines Kleinkindes, das
mit einem übergroßen Bademantel durch die Wohnung läuft? Spinatschlachten und
zerrissene Bücher.
Käfer. Ein Kind will einen Käfer zertreten. Es
wird wütend, weil es davon abgehalten wird. Welch ein Machtverlust. Wären die
Erwachsenen Käfer, würde das Kind die zertreten. Wie gut, dass nicht jeden Morgen die
Größenverhältnisse neu verteilt werden.
Gute Nacht. Die Walgesänge eines einschlafenden
Kindes. Pazifische Weite und Urvertrauen in einem kleinen Körper. Nachtrag:
Unser Sohn Leonard sang stundenlang, bevor er sprechen konnte. Als er der
Sprache mächtig war, brabbelte er - sich in den Schlaf wiegend - endlos.
Heute liest er ohne Unterbrechung, bevor er einschläft. Das wäre eine
Monografie: Menschen und ihre Einschlafhilfen.
Traum. Vielleicht ist der Traum der Vater aller
Dinge.
Werdet wie die Kinder. Aber wie sind Kinder? Das
können wir nicht ermessen, weil wir den Zustand erlebt haben, aber nicht erinnern.
Märchen. Nicht nur Kinder brauchen Märchen - so
will es der Gemeinplatz. Aber wenig behandelt ist die Frage, welche Märchen wir brauchen
und welche wir lieber vergessen.
Kinder. Wir werden nie das Bild der Kinder
unmittelbar nach der Geburt los. Ihr Erwachsenwerden eine Lüge?
Weihnachten. Alle Erinnerungen sind zuvörderst
Rekapitulationen von Wünschen. In jeder Anamnese taucht Begehren auf, das unerfüllt
blieb. Die uneingelösten Träume harren auf Erfüllung. Au-Weih-nachten, wenn der
Christbaum in den gleichgewichtslosen Halter gerammt wurde und die Familie plötzlich das
Spieglein an der Wand ihrer tristen Verfassung sah.
Weihnachtsmarkt. St. Sebaldus, Nürnberg, drei
Punker mit Hund betreten den Sakralraum. Nieten- und kettenbewehrt, funkelndes Metall, wie
zu groß geratene Weihnachtsbaumanhänger, die dem Christkindlmarkt entronnen sind und
sich nun des Herrn erfreuen.
Autoscooter. Ich fahre mit meinem Sohn in einem
Autoscooter, die Ablenkungen sind zu zahlreich, er steuert nicht, sondern wird von dem
Ansturm der Reize abgelenkt. So verlieren wir die Steuerungskraft, wenn wir unseren Blick
nicht entphänomenologisieren, d.h. die Welt so banal nehmen wie sie nicht ist, wie wir
sie aber brauchen, um handlungsfähig zu sein.
Collage eines unduldsamen Kindes. Kinder besitzen
noch die Kraft, mit der Apathie der Konvention fertig zu werden. Werdet wie die Kinder.
Hintertreibt die Regeln, während ihr sie kennen lernt. Jede Regel schreit nach
Permutation.
In der Welt sein. Warum Kinder geliebt werden,
kann verschieden beantwortet werden. In ihnen lieben wir die Entfernung zu der Welt, die
wir verloren haben und nur sehr schwer rekonstruieren können. Nicht zuletzt aber ist ihre
Distanz zu den Verhältnissen, die wir glauben zu sehen, noch stark. Sie leben und denken
gegen die Verhältnisse, die wir ihnen verordnen. Wenn diese Distanz in ihrer späteren
Existenz aufgehoben ist, werden sie die Verhältnisse ändern - mehr oder weniger.
Lego. Der Verfall des Spielwertes von Spielzeug
zeigt nichts besser als das Lego-Konstruktionssystem. Waren vorher Bausteine
Fantasiematerial mit ungezählten Spielmöglichkeiten, hat heute die Erlebnisbanalität
von Fertigszenarien die armen Kinder eingeholt. Toys for adults. Da ist es nur gerecht,
wenn die Autoindustrie die Kinder umschmeichelt, weil die nun auch für die Großen
entscheiden dürfen.
Matchbox. Die kleinen Autos/Puppen/Kaufläden
vermitteln Kindern ein Bewusstsein von der Verfügbarkeit der großen Welt. Der Realismus
war für das Kinderbewusstsein unüberbietbar. So wie die schlechten Zeichnungen in den
frühen Kinderbüchern eine sinnliche Qualität vermittelten, die wir selbst bei den
großen Realisten der Malerei nie mehr gefunden haben, weil wir als Kinder noch der
Fantasie auf die Sprünge geholfen haben. Eine Geschichte der großen Rezipienten wurde
nie geschrieben. Wie viel Imagination, die unrettbar verloren scheint.
Beherrschbar. Erwachsene suchen Kinderspielzeug,
weil sie es jetzt beherrschen können. Vormals war es die Welt, jetzt ist es die
Herrschaft über die Kleinwelt, die Papa zum Bahnhofsvorsteher werden lässt.
Nintendo. Auch Spielzeug läuft heute im Computer
zusammen. Virtualisierung von Spiel und Spielzeug.
Abstrakt. Kinder ertragen Kinderbücher, weil sie
viel abstrakter denken als Erwachsene. Das Bewusstseinsprogramm im Aufbau legt Strukturen.
Danach reagieren Kinder oft regelgerecht, aber falsch. Ein Kind zählt auf: "Erstens,
Zweitens, Dreitens". Kinder rekonstruieren Sätze syntaktisch-abstrakt: "ABC,
die Katze ba ba im ba ba". Also hat die verfemte "Ganzheitsmethode" doch
Recht.
Mini-Play-back-Show. Wie weit die öffentliche
Betroffenheit eben nicht reicht, wird klar, wenn Kinder als Appetithappen für Schänder
unter den Augen der beglückten Eltern kredenzt werden.
Pädagogik. Die eigenen Schwächen
rekapitulieren. Zumeist ist Didaktik wichtiger als Pädagogik - zumal die Vorbilder
abhanden gekommen sind. Aber Kinder müssen getäuscht werden, wenn sie später den
Enttäuschungen standhalten wollen.
Goedart Palm
"Wie
kommt es, dass die Zeit die Heiterkeit (gaieté) verloren hat? Das hat
seine Ursache in der außerordentlichen Vermehrung unserer Kenntnisse.
Mit der Aufklärungswut fanden wir mehr Leere als Völle - und im
Grunde wissen wir, dass unendlich viele Dinge, die unsere Väter für
Wahrheiten hielten, keine sind, und wir wissen sehr wenig Wahres, das
unsere Väter nicht auch schon wussten. Die Leere in unserer Seele und
unsere Fantasie - sie ist die wahre Ursache der blasierten
Traurigkeit." (Abbé Galiani) |
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