Provozierte Musik
Peter V. Brinkempers
intermediale Neuinterpretation
zu Thomas Manns "Doktor Faustus"
Wie der Ulysses von James Joyce gehört Thomas Manns Roman Doktor Faustus
zu den großen epischen Entwürfen des 20. Jahrhunderts. Beide lösen sie die
alteuropäischen Mythen, hier des heimirrenden Kriegers Odysseus, dort des an seinem
Glauben verzweifelnden Dissidenten Faust aus ihrem antiken oder spätmittelalterlichen
Kontext heraus und setzen sie als Protagonisten mitten in die entgötterte Welt einer
entzauberten und ungewissen Moderne.
Das urbane Sprachabenteuer des Ulysses die Vielfalt der von Kapitel zu
Kapitel den Dubliner Alltag von Leopold Bloom einkreisenden Stilistika, Erzähltechniken
und Perspektiven führte schnell zur einhelligen Anerkennung durch die literarische
Welt.
Dagegen hat sich die Kritik mit Thomas Manns 1943 bis 1945 im amerikanischen Exil
entstandenem Epochenepos über Leben und Werk des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn
durchweg schwer getan. Bei allem Respekt, Verständnisschwierigkeiten bereitete Manns
ehrgeizige Intention, das Verhältnis der deutschen Nation zur Musik und die Kritik an
ihrer unseligen politikfernen Innerlichkeit zu einem Roman zu verbinden.
So hat der Doktor Faustus bis heute eher eine ebenso disparate wie gelegentlich
engstirnige Interpretationsgeschichte erfahren. Auf der einen Seite stehen rein
kunsttheoretische Untersuchungen, vor allem zur Montage unterschiedlicher Quellen: von
Nietzsche als Vorbild für den faustischen Komponisten Leverkühn, über Arnold
Schönbergs musikalischen Expressionismus und seine spätere Zwölftontechnik bis hin zu
Adornos kunstphilosophischer Abhandlung Philosophie der neuen Musik, fast
zeitgleich zum Roman entstanden. Selten wird dabei in die darstellungstechnische Tiefe der
prominenten Musikkapitel des Romans vorgestoßen, von Beethovens Klaviersonate opus 111
über Adrian Leverkühns fiktive Kammermusik bis hin zu seinen Hauptwerken, dem
Oratorium Apocalipsis cum figuris und der Kantate Dr. Fausti Weheklag. Auf
der anderen Seite stehen die Versuche, den politischen Gehalt des Romans vorschnell und
allein aus den direkt zeitgeschichtlichen Passagen abzulesen: Immer wieder unterbricht der
Erzähler Serenus Zeitblom die Darstellung der Biografie seines dämonisch angehauchten
Jugendfreundes Adrian Leverkühn, um die absehbare Kriegsniederlage des
nationalsozialistischen Deutschlands an allen Fronten zu schildern.
Peter V. Brinkemper hat gerade die gattungssprengende dionysische Verknüpfung
von Künstlerbiografie, philosophischer Musikanalyse und politischer Zeitgeschichte zum
Ausgangspunkt einer umfassenden Untersuchung gemacht: In den intermedialenFiguren
von Spiegel und Echo findet Brinkemper nicht nur Metaphern sondern konkrete Modelle,
wie literarische und musikalische Zeichensysteme je für sich, aber auch
gattungsübergreifend organisiert werden können. In exemplarischer Weise legt der Autor
die intermediale Tiefenstruktur des Romans frei, den exakt auskomponierten Dialog
zwischen Literatur und Musik, die Kontrapunktik von Kunst und Politik, den Hochmut im
Elfenbeinturm, die Barbarei von Blitzkrieg und Vernichtungslager. Der Erzähler Zeitblom
attestiert Adrian Leverkühns apokalyptischem Oratorium "explodierende
Altertümlichkeit", eine Kennzeichnung, auf die sich Adorno und Mann in einem
ihrer zahlreichen kalifornischen Arbeitsgespräche zum Roman einigten, nicht nur im
Hinblick auf die endzeitliche moderne Musik des Helden, sondern auch auf das Unwesen des
Faschismus, die technisch hochgerüstete Antimodernität, die Hitlerdeutschland in seiner
Politik verfolgte. Dabei beharren Adorno und Mann gerade auf der Autonomie der
musikalischen Kunst, vermöge derer sie entschiedener und intelligenter zu den
Zeitläuften Stellung nehmen könne als durch vermeintlich realistisches Abbilden oder
polemisches Eingreifen.
Brinkempers Anspruch besteht darin, bisher eingefahrene und isolierte Diskurse der
Literaturwissenschaft, der Musiktheorie, der Philosophie und der politischen
Geschichtsschreibung interdisziplinär miteinander zu verzahnen. Und zwar keineswegs
willkürlich: weder als Wagnersches Gesamtkunstwerk, noch in soziologischer Reduktion,
auch nicht in zeitgenössischer multimedialer Beliebigkeit. Sondern gleichsam auf der
Basis einer harten ästhetischen Währung, der intermedialen Vernetzbarkeit
raumzeitlich ausdifferenzierter Medien, autonomer Künste und eigengesetzlicher Diskurse.
Trotz seines erzählerischen Reinheitsgebots steht der Doktor Faustus der
MTV-Culture näher als den allbekannten Künstler-Bürger-Debatten in den Buddenbrooks.
Der klassische Wettstreit der Künste (deren Priorität Hegel zu Gunsten der Poesie und
Nietzsche als Fürsprecher der Musik entschieden) ist längst einer flottierenden
Medienkultur gewichen. Sie hat die feinen Unterschiede zwischen E- und U-Kultur, Elite und
Pop, Sprache und Sound, elektronischem Image und Live-Konzert unwiderruflich zertrümmert.
Adrian Leverkühns letztes Werk nimmt dies alles vorweg. Von dem kantatenförmigen
Riesenlamento Dr. Fausti Weheklag heißt es in einem Atemzug,
kontrapunktisch zu den amerikanischen Entdeckungen der Gräuel von Weimar und Buchenwald: Menschen-,
Gottes- und Höllenklage, Lied an die Trauer, Gegenstück zu Beethovens 9.
Symphonie. Im paradoxen Jubel der Klage, die welt- und ich-verloren vergisst,
worüber sie sich ergeht, in der vernichtenden Befreiung des verzweifelten
Ausdrucks eröffnet sich die Möglichkeit einer radikalen Lesart des Romans, seiner
musikalischen und politischen Darstellung in all ihren motivischen Spiegelungen und Echos,
Multiplikationen und Sinnverkehrungen, wie sie Brinkempers wegweisende Untersuchung zum
ersten Mal eingehend freigelegt hat.
Goedart Palm
Peter V. Brinkemper:
Spiegel & Echo, Intermedialität und Musikphilosophie im "Dr.
Faustus".
Königshausen & Neumann. ISBN 3-8260-1247-X. 520 Seiten. DM 98,-
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