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Überleben im Netz und anderswo

oder

ein höchst kursorisches Menetekel zur

Plastizität des Bewusstseins

"Wir können um so mehr Geschehnisse gleichzeitig bewusst verfolgen, je weniger Aufmerksamkeit wir auf sie verwenden..."(Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 220 f.). "Am stärksten ist dasjenige von Bewusstsein und Aufmerksamkeit begleitet, was neu und wichtig ist" (Roth, ebenda, S. 230).

I. Standortverluste

Eine bisher nicht geschriebene Geschichte der Aufmerksamkeit käme unter anderem zu dem trivialen Schluss, dass das Neue und Wichtige im Verhältnis zum Alten und Bekannten permanent wächst. Erfahrungen werden unbrauchbar, Traditionen werden überwuchert, verkommen zum Ballast einer Welt, die nur noch im Werden begriffen ist. Die Lebenswelt im 20. Jahrhundert produziert mithin nicht nur sehr viel mehr Phänomene, die um Aufmerksamkeit heischen, sondern verlegt tendenziell die Zukunft in die Gegenwart. Es herrscht permanente Aufbruchstimmung, Goldrush-Time, hinter jeder Erfüllung, hinter jeder technischen Innovation stehen neue Wünsche, neue Anforderungen an die Vervollkommnung des Verhältnisses von Mensch und Welt. Die Grundstimmung bleibt dabei zumeist der Anthropozentrismus, dieser älteste, nicht ausrottbare Glaube, dass der Mensch sich die Welt nur untertan müsse, um mindestens in paradiesähnlichen Zuständen zu enden.

Mit dem exponentiellen Wissenszuwachs wächst individuelle Inkompetenz so rapide wie kollektive Kompetenz. Was gestern wichtig war, ist heute nicht einmal mehr als Basiswissen zu gebrauchen. Paradox also: Mit der Totalisierung der Information wächst proportional die Orientierungslosigkeit (Exformation) des Einzelnen.

Hier steckt die abgründige Gefahr, dass der Vorschein des Vollkommenen und seine Zumutungen an die menschliche Lern- und Handlungsfähigkeit nicht länger auf die angemessenen Möglichkeiten eines biologischen Bewusstseins stoßen. Das Bewusstsein ist vor allem eine historische Konstruktion mit der herausragenden Eigenschaft, auf Veränderungen der äußeren Welt flexibel im Sinne seiner Selbsterhaltung zu reagieren. Die Geschichte des Bewusstseins präsentiert dabei zugleich eine reichlich katastrophale Fallgeschichte, dass seine "älteren Module" mit veränderten sozialen, ethischen, wissenschaftlichen Entwicklungen nicht klar kommen. Nicht von ungefähr regt sich körperlicher Unwillen gegen Technologien, mehren sich "Outburn-effekte", reagiert das Bewusstsein regressiv auf die vermeintliche Beherrschbarkeit der Welt, wendet sich mit Grausen von immer neuen Versprechen und Erfüllungen ab.

II. The mind strikes back?

Wie begegnet man dem? Wer oder was begegnet dem? "Handle stets so, dass die Zahl deiner Handlungsmöglichkeiten vergrößert wird" (Heinz von Foerster). Aber dieser kategorische Imperativ der Neuzeit endet selbst in einem unendlichen Rückgriff, weil hinter jeder neuen Handlungsmöglichkeit sich weitere Handlungsalternativen auffächern...ad infinitum. Allein die Betrachtung aller Handlungsmöglichkeiten ließe jedes Handeln unmöglich werden. Vielleicht wäre es also praktischer im Sinne eben dieser Vernunft, so zu handeln, dass die Zahl der Handlungsmöglichkeiten reduziert wird – also bescheiden formuliert: "Handle stets so, dass deine Handlungsmöglichkeiten erhalten bleiben." Von Foerster stellte auch kybern-ethisch fest: "Du kannst nur das entscheiden, was Du nicht entscheiden kannst." Spieler würden Regeln (freiwillige Selbstbeschränkungen) aufstellen und nur im Rahmen dieser Regeln operieren, weil das ein unhintergehbarer Selbstschutz wäre.

Allgemein formuliert lassen sich somit zwar konstitutive, vielfältig verbundene "Überlebens-Strategien" des Bewusstseins angeben: Abzug von Aufmerksamkeit, selbst gesetzte Regelwerke des eigenen Handelns, Auswahl von Anknüpfungsmöglichen mit dem Wissen ihrer Zufälligkeit, Rückzug auf die sinnlich-analoge Welt (Schreiben, Malen, Kochen etc.). Aber lässt sich das "Verhaltenskostüm" (Claudia Klinger) mit der Saison wechseln? Das Bewusstsein ist eben (noch) kein Modulstecksystem mit beliebig wechselbaren Einstellungen. Update?

Alle diese Heilmittel, so fröhlich sie im Einzelfall für eine mehr oder weniger lange Zeit tragen mögen, stoßen auf kollektive Lebensumstände, die nicht vom Willen des Menschen, seinen kategorischen oder unkategorischen Imperativen oder etwa radikalen Konstruktionen des Bewusstseins abhängen. Technologien, digitale Lebenswelten und ihre gesellschaftlichen Überformungen können nicht einfach verlassen werden, sondern schneiden sich ungefragt immer wieder in den Geist und das Fleisch der Existenzen ein. Schon spalten sich Gesellschaften in Informationsherrscher und Informationsparias auf, zeichnen sich Mehrklassengesellschaften ab. Turbokapitalistische Unternehmen fragen nicht länger nach den Eigenzeitbedürfnissen ihrer Unterworfenen. Alte Konflikttypen wie etwa Kriege werden mit Hilfe digitaler Technologien unendlich aufgerüstet ... Und in diesen Strudeln der Mensch, sein Bewusstsein, seine Ethik, sein Glauben – rette sich, wer kann!

Goedart Palm


Vgl. dazu die Anmerkungen von Claudia Klinger, digidiary, 18.11.1999 

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Copyright. Dr. Goedart Palm 1998 - Stand: 01. Mai 2018.