"Katastrophilie"
als letzte Lust der Medien
Originaltext unter: www.telepolis.deGoedart Palm 12.07.2003
Droht uns demnächst die Katastrophenunterversorgung?
Seit Aristoteles mündet nicht nur das Leben, sondern jedes gute Drehbuch in der
Katastrophe. Ein bekannter deutschsprachiger Verlag formuliert das für sein
Suspense-Angebot etwas handgreiflicher: "Mord", "Mehr Morde",
"Noch mehr Morde". Für Kriminalromane ist das ein mehr als plausibles Leselustmotiv:
"Weil's sich so angenehm lebt mit angesehenem oder angelesenem Mord, ist der Bedarf
an Mord nie zu decken." Auch in Gesellschaften, deren Verbreitungsmedien reale
Ereignisse spannungstechnisch und erlebnisorientiert als Krimis nachempfinden, ist der
Bedarf an Mord außerordentlich hoch. Wer sich nicht an fiktiven Morden ausreichend
sättigt, greift seit alters her zu bluttriefenden News, die deswegen noch längst keine
Nachrichten sein müssen.
Doch in diesen heißen Tagen zeichnet sich eine medienevolutionäre Krise ab, eine
Informationsapokalypse, die in ihrem ganzen Schrecken für unsere zukünftige
kriminologische Aufklärungsnotdurft längst nicht auszuloten ist. BILD will grundsätzlich keine
Berichte mehr über Selbstmorde bringen! Und das in einer Zeit, in der die Zeitungskrise
immer weiter um sich greift. BILD, das Blatt, dem bislang kein Kick entging, das unsere
tiefsten, verborgensten, mindestens aber ebenso unsere oberflächlichsten Lüste mit allem
Datenmüll belieferte, wenn er denn irgendwie katastrophen- oder lusttauglich, am besten
aber beides zugleich ist.
Ab jetzt gibt's BILD-Selbstmorde nur noch, wenn sie die Hamburger Chefredaktion
gutheißt. Das soll allein bei besonders spektakulären Selbstentleibungen gelten. Für
das Redaktionsstatut wäre also die klassische Überdosis Schlaftabletten kein
journalistische Meisterleistungen auslösendes Spektakel mehr, der Flugzeugabsturz in
öffentliche Gebäude dagegen politisch korrekt. Und Möllemann toppt selbstverständlich
alles, weil der Selbstmord vielleicht doch ein Unfall war oder aber nicht - ad libitum.
Wird BILD jetzt selbst zur Schlaftablette? Ist die neu entdeckte Sensibilität der Anfang
vom Untergang der BILD-Katastrophe? Die vernichtenden Analysen Günter Wallraffs, der
sogar eine Stiftung zur Wahrung der Rechte von Opfern der BILD-Berichterstattung
gründete, könnten zum Redaktionsschnee von gestern werden.
© Goedart Palm
Anlässlich der Bonusmeilen-Affäre wurde BILD noch im Sommer letzten Jahres vom
Deutschen Presserat gerüffelt, weil man gegen die publizistische Sorgfaltspflicht
verstoßen habe, die übrigens nach Auffassung des Bundesgerichtshofs bei dem
Redaktionssteckenpferd von BILD - der Verdachtsberichterstattung - in erhöhtem Maße
gelte. Doch im März 2003 wurde BILD-Chefredakteur Kai Diekmann der Ehrenpreis des
"B'nai B'rith Europa" ("Söhne des Bundes") für die faire
Berichterstattung über Israel überreicht und vielleicht zeigt das jetzt Wirkung. Droht BILD
seriös zu werden?
Es könnte zur wahren Katastrophe der Katastrophengier werden, wenn die Medien
freiwillig in die Ausnüchterungszelle gehen und wir unsere Katastrophen demnächst wieder
selbst besorgen müssten. Fallen nach den Selbstmorden die Flutkatastrophen, die
Autobahn-Massenkarambolagen, vielleicht noch die tödlich endenden Familiendiskurse einer
neuen Aufmerksamkeitsmoderation zum Opfer? Und was ist überhaupt mit dem allgegenwärtige
Terrorismus, der schließlich auch Nachahmungstäter gebiert, die es mal mit dem
"Großen Satan" aufnehmen wollen, um unser aller Aufmerksamkeit wenigstens für
ein paar Monate sicher zu sein? Die BILD-Berichterstattung zu Nine/Eleven war noch
erfüllt von apokalyptischen Leitmotiven,
die uns dieses Ereignis aus der erregenden Kategorie "Weltuntergang" so
höllisch einfühlsam präsentierten. Ohne BILD-"Hystorien" (Elaine Showalter)
wäre eine veritable Terroristen-Hexenjagd doch nicht einmal das halbe Vergnügen.
Wie viel Katastrophenabstinenz verkraftet eine Mediengesellschaft eigentlich? Wir
würden der Informationen verlustig gehen, die uns täglich versichern, dass wenigstens
wir noch leben! Der solideste Beweis der eigenen Existenz in diffusen Zeiten ist noch
immer der Tod des Anderen. Wenn wir die Medien ihrer Katastrophen berauben, was bleibt
dann von diesem medial geschöpften Katastrophenglobus überhaupt noch übrig? Die Welt
ist eine Katastrophe und sie braucht Katastrophen, die sie im Innersten zusammenhalten.
Immanuel Velikovsky meinte, dass die
kosmischen Katastrophen auf Grund ihres überwältigenden Schreckens aus dem kollektiven
Menschheitsgedächtnis verdrängt wurden. Medienkatastrophen wären dann eine Art
unbewusster Anamnese, jeder voyeuristisch enthüllte Medientod ein seit unvordenklichen
Zeiten verdrängter Meteoritenhagel.
Wer lediglich von Risikogesellschaft spricht, verschweigt jedenfalls die ganze
Wahrheit, dass nämlich das eingetretene Risiko, die echte Katastrophe, dieser Einbruch in
unsere wohl temperierte Alltäglichkeit der wahre emotionale Fluchtpunkt unseres
gesellschaftlichen Inter-esses (Dabeiseins) ist. Auch in atavistischen Politikritualen, im
agonalen (!) Sport und schadenfrohen Spiel ist die Katastrophe viel mehr als die
Sättigungsbeilage für den erlebnishungrigen Fernseh-Zaunkönig. Das Katastrophenformat
ist der Betriebsstoff unserer permanent flüchtenden Aufmerksamkeit, unbeschadet des
Wissens, dass die Medien selbst die Katastrophe sind, über die sie berichten. Wir sind
doch George Bush II., Tony Blair, Kim Jong Il, Saddam Hussein, Usama bin Ladin, Charles
Taylor und unzähligen weißen wie schwarzen Rittern für ihre ungezählten
uraufgeführten Dramen heimlich zu tiefstem Dank verpflichtet. Hier werden
Katastrophenlust, Panikgier, die Freude am allfälligen Untergang aufs Beste bedient - und
dürfen zudem völlig schmerzfrei weggezappt werden.
Was wäre unserer Alltagsexistenz noch an Authentizität abzugewinnen, wenn uns die
lustvoll geborgten Fernkatastrophen abhanden kämen? Die Horror-Dosis, die wir inzwischen
einwerfen, um unseren fernsehalltäglichen Suchtpegel zu erreichen, ist hoch geworden.
Zugleich leben wir jedoch in dieser beunruhigenden Ambivalenz von Katastrophenabwehr und
Katastrophenlust. Ist es gefahrvermeidende Fernsehmagie, wenn möglichst viele Attentate
und Vernichtungsorgien unseren Monitor aufheizen? Zu viel Glück erregt bekanntlich nach
Schillers "Polykrates"
den Neid oder Zorn der Götter: "So kann ich hier nicht ferner hausen, Mein Freund
kannst du nicht weiter sein. Die Götter wollen dein Verderben; Fort eil ich, nicht mit
dir zu sterben.".
Doch alle diese Fernkatastrophen sind längst selbst katastrophenanfällig geworden.
Sie bescheren unserer Erfahrung keinen klassischen Wendepunkt, keine echte Auflösung
mehr, die uns besser aus der Katastrophe herauskommen ließe, als wir sie betreten haben.
Nach Benjamin, Baudrillard und anderen sind es Katastrophen, die vor allem auf sich selbst
verweisen, um
nach kürzester Halbwertszeit der kollektiven Amnesie, vulgo: Blödigkeit, anheim zu
fallen. Denn ob in China ein Sack Reis umfällt oder der Jangtsekiang über die Ufer
tritt, ist zwar für unsere "Fernlinge" ein Unterschied, für uns ist es dagegen
nur ein folgenloser "Brennpunkt"-Bericht mehr, der uns gerade mal bis zum
nächsten Spielfilm trägt.
Nun gut, der BILD-Katastrophenmaschine wird auch ohne spektakuläre Selbstmorde der
Stoff nicht ausgehen. Etwa mit jenen "breaking news" über "Busen-Witwe
Gsell", die im Knast zu Gott gefunden hat. Und das nach nur 78 Tagen! Da ist es ja
fast eine Katastrophe, dass die deutschen Gefängnisse überfüllt sind, echte Sünder
keine Chance auf Bekehrung haben und die Kirchen leer stehen! Und schließlich die
tröstlichste Katastrophe der Mediengeschichte: BILD-Leser werden nie aussterben, wenn
BILD sich treu bleibt. Diese Hoffnung lassen wir uns nicht nehmen. |